Rudolf Augstein wäre 100 Jahre alt geworden
Hamburg (dpa) - Manchmal ist es ganz einfach, die Bedeutung einer Persönlichkeit für die Gesellschaft festzumachen: an einem Straßennamen zum Beispiel. Mitten in Hamburg wurde jetzt rund um das prägnante «Spiegel»-Medienhaus eine Promenade nach Rudolf Augstein umbenannt.
Der Gründer des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» war ein streitbarer Geist und einer der wichtigsten Medienmänner des 20. Jahrhunderts. Am Sonntag (5. November) wäre der Verleger, der 2002 mit 79 Jahren starb, 100 Jahre alt geworden. Augstein steht bis heute als Herausgeber im Impressum des Magazins.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
1947 erschien die erste Ausgabe des linksliberalen Magazins, das zu einer der wichtigsten deutschen Medienmarken mit Renommee in der ganzen Welt wurde. Man muss sich das vorstellen, in welcher Zeit Augstein das Magazin etablierte: Deutschland war moralisch kaputt nach Zweitem Weltkrieg, Nazi-Herrschaft und Holocaust. Das Land musste wieder aufgebaut werden. Den Medien kam damals eine wichtige Funktion zu.
Der aktuelle «Spiegel»-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit sagte im Interview der Deutschen Presse-Agentur auf die Frage, ob das Magazin heute noch das «Sturmgeschütz der Demokratie» sei, wie es Augstein verstand: «Der "Spiegel" hat seinem Gründer viel zu verdanken. Er hat uns unsere DNA eingepflanzt: die Recherche, das genaue Hinschauen, den Satz "Sagen, was ist"». Der 61-Jährige ergänzte, für ihn sei Augstein sehr lebendig. «Den Begriff "Sturmgeschütz" würde ich heute allerdings nicht mehr verwenden. Der war für die damalige Zeit genau richtig. Damals gab es für die Demokratie in Deutschland noch etwas zu erobern. Demokratie musste sich noch etablieren.»
Tochter: «Er war vollständig unsentimental.»
Über Augstein, der 1923 in Hannover geboren wurde, in einer bürgerlich und katholisch geprägten Familie aufwuchs und später fünfmal verheiratet war, lässt sich viel erzählen.
Seine Tochter Franziska Augstein beschrieb ihn am Freitag bei einer Feierstunde im «Spiegel»-Haus als Realisten. «Er war vollständig unsentimental», sagte die 59-Jährige. Die Journalistin und Publizistin schränkte zugleich ein: Beim Film «Casablanca» habe er stets geweint.
Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, dass die Polizei durch eine Redaktion wie den «Spiegel» zieht, die Schreibmaschinen beschlagnahmt und den Verleger verhaftet. So kam es 1962, nachdem der «Spiegel» mit seiner Titelgeschichte «Bedingt abwehrbereit» über den Zustand der Bundeswehr geschrieben hatte - alles in einer nervösen Zeit des Kalten Krieges. Der Verdacht: Verrat von Staatsgeheimnissen. Augstein saß rund 100 Tage in Haft. Der Skandal gilt als wichtiges Beispiel für Pressefreiheit. Es kam zu einer Regierungskrise. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) verlor sein Amt. Die jahrelange Fehde zwischen Augstein und Strauß war legendär.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Rede bei der «Spiegel»-Feier, Augstein sei nicht nur Geburtshelfer für eine freie Presse geworden, sondern auch Akteur im Machtgefüge der Republik.
Mitarbeiter zu Teilhabern gemacht
Eine weitere Besonderheit in der Medienlandschaft war, dass Augstein, der bisweilen für sehr bissige Kommentare bekannt war, die Hälfte seines Verlags den eigenen Mitarbeitern schenkte, um sie zu Teilhabern zu machen. Dadurch bekamen die Angestellten eine mächtige Stimme im Haus und sprechen bei wichtigen Fragen mit - bis heute.
Das Bild auf den «Spiegel»-Gründer änderte sich mit den Jahrzehnten immer wieder. Das Magazin selbst setzte sich wie jetzt wieder mit Biografie und Person Augsteins kritisch auseinander. In der aktuellen Serie heißt es: «Leben und Werk Rudolf Augsteins stecken voller Widersprüche.» Diskutiert wurde in der jüngeren Zeit etwa sein Umgang mit Frauen. In der Serie wird auch beschrieben, dass es im Elternhaus betont national zugegangen sei.
Augsteins Satz «Sagen, was ist» hängt in großen Buchstaben am Eingang des «Spiegel»-Gebäudes. Chefredakteur Kurbjuweit sagt aber auch: «Natürlich schauen wir heute auch kritisch zurück, unsere aktuelle große "Spiegel"-Serie zeigt auch die Grautöne dieser funkelnden Persönlichkeit. Aber wir distanzieren uns nicht, Rudolf Augstein bleibt unser journalistischer Gründungsvater.»