Pharma-Familie auf Expansionskurs: Wie Boehringer Bayer abhängt
Kein Börsenkurs, kein Drama – nur Wachstum
Während börsennotierte Pharmariesen wie Bayer und Merck Quartal für Quartal dem Kapitalmarkt gefallen müssen, spielt Boehringer Ingelheim nach eigenen Regeln.
Das Familienunternehmen legt keine Gewinnzahlen vor, meidet den Börsenzirkus – und wächst dennoch schneller als die Konkurrenz. 2024 stieg der Umsatz um 4,6 Prozent auf knapp 27 Milliarden Euro, währungsbereinigt sogar um 6,1 Prozent. Damit ist Boehringer erneut die Nummer eins unter den deutschen Pharmakonzernen.
Das Fundament: zwei altbewährte Medikamente, die längst den Status von Blockbustern erreicht haben. Jardiance, das ursprünglich als Diabetesmittel gestartet ist, erwirtschaftete 8,4 Milliarden Euro – ein Plus von 14,8 Prozent. Und Ofev, ein Mittel gegen Lungenfibrose, kam auf 3,8 Milliarden Euro.
Doch das Fundament wackelt. Beide Produkte drohen in den kommenden Jahren massiv an Umsatz einzubüßen – entweder durch Generika oder durch regulatorischen Preisdruck.
USA bleibt Boehringers Schlüsselmarkt – und Achillesferse
Rund 46 Prozent des Geschäfts macht Boehringer Ingelheim in den USA. Das ist ein Vorteil – und ein Risiko.
Denn mit dem US-Inflation Reduction Act rollt ein massiver Sparkurs durch die Gesundheitsversorgung, der auch Boehringers Topseller trifft. Jardiance etwa wird ab 2026 für Medicare-Patienten zu einem um 66 Prozent rabattierten Listenpreis abgegeben.
Gleichzeitig diskutiert die Regierung in Washington mögliche Zölle auf Pharmaimporte. Konkrete Maßnahmen gibt es noch nicht – doch allein die Unsicherheit genügt, um Planungen ins Wanken zu bringen.

Hubertus von Baumbach, Chef des Familienunternehmens, gibt sich gelassen: Man wolle zunächst abwarten. Der Vorteil eines Familienunternehmens:
„Bei uns wartet keine Börse auf eine Antwort.“
Milliarden für Forschung – Boehringer geht in die Offensive
Boehringers Antwort auf die Herausforderungen: forschen, investieren, neue Produkte entwickeln. Mit einer F&E-Quote von 27,6 Prozent im Bereich Humanpharma liegt das Unternehmen deutlich über dem Branchenschnitt. 5,7 Milliarden Euro flossen 2024 allein in die Medikamentenentwicklung.
Ziel: mehr als zehn klinische Studien in den Phasen zwei und drei innerhalb der nächsten 18 Monate.
Zwei Hoffnungsträger stehen dabei im Fokus: Nerandomilast, ein neuer Ansatz gegen Lungenfibrose, könnte noch dieses Jahr in den USA auf den Markt kommen – pünktlich zur Patentauslaufphase von Ofev.
Und Zongertinib, ein Krebsmedikament gegen HER2-mutierten Lungenkrebs, soll Boehringer nach Jahren wieder in der Onkologie etablieren. In China und den USA liegen bereits Zulassungsanträge vor.
Jeder zehnte Wirkstoff schafft es – wenn überhaupt
Doch der Weg zum fertigen Medikament bleibt hochriskant. Weniger als zehn Prozent aller in Phase-1 gestarteten Substanzen erreichen die Zulassung. Selbst in späten Studien scheitern Wirkstoffe.

Jüngstes Beispiel: Boehringer musste die Entwicklung von Iclepertin gegen Schizophrenie einstellen – trotz weit fortgeschrittener Forschung.
Die Realität der Branche ist hart: Patente laufen aus, Generika drängen in den Markt, regulatorische Auflagen steigen, politische Risiken nehmen zu. Umso wichtiger wird es für Unternehmen wie Boehringer, mehrere starke Produkte gleichzeitig zu entwickeln – und nicht auf Einzelerfolge zu setzen.
Kein Börsenkurs – aber eine Erwartung
Boehringer ist Familienunternehmen – und dennoch steht es unter Erwartungsdruck. 66 Millionen Menschen wurden 2024 mit Medikamenten des Konzerns behandelt.
Die Zahl soll weiter steigen. Auch deshalb investiert Boehringer nicht nur in neue Wirkstoffe, sondern auch in Produktion und Logistik: Kooperationen mit Lohnherstellern in den USA sollen Lieferketten stabilisieren – ein stilles Risiko-Management angesichts drohender Handelsbarrieren.
Von Baumbach bleibt betont sachlich: Zölle wären „ein Spiel ohne Gewinner“. Doch die Vorbereitung auf geopolitische Disruptionen läuft längst – diskret, kapitalintensiv und mit dem langen Atem, den sich nur ein Unternehmen ohne Quartalsdruck leisten kann.
Zeit kaufen, um voranzukommen
Boehringer Ingelheim beweist, dass man auch ohne Börsennotierung Tempo machen kann. Doch der Erfolg hängt an einem immer dünner werdenden Faden: den verbleibenden Jahren bis zum Patentauslauf, den politischen Launen in den USA – und der Frage, ob die neuen Kandidaten das Wachstum wirklich tragen können.
Was Boehringer derzeit hat, ist ein Vorteil, den andere nicht haben: Zeit. Doch sie wird teuer erkauft – mit Milliarden für Forschung, für Produktionssicherheit, für globale Strategien. Ob sich diese Geduld auszahlt, werden die nächsten 24 Monate zeigen.