Ein Jahrhundertwerk entfacht neues Leben: Pina Bauschs "Das Frühlingsopfer" in neuer Interpretation
Pina Bauschs faszinierende Neuinterpretation von Igor Strawinskys epochalem Werk "Das Frühlingsopfer" erweckt abermals Bewunderung und Erstaunen. Interessant bleibt die historische Entstehungsgeschichte: Strawinsky selbst stand der tänzerischen Umsetzung seiner komplexen Komposition zunächst kritisch gegenüber.
Obwohl Vaslav Nijinskys Versuch, die Choreografie mit den vielschichtigen Polyrhythmen zu verknüpfen, 1913 als Skandal-Erfolg für die Ballets Russes galt, kommentierte der Komponist skeptisch über das experimentelle Vorhaben. Doch entgegen Strawinskys Bedenken hat "Das Frühlingsopfer" die Tanzwelt nachhaltig geprägt.
Zahlreiche Inszenierungen zeugen von dem stetigen künstlerischen Dialog zwischen Musik und Tanz, wenngleich nicht alle den hohen Ansprüchen gerecht werden konnten. Kenneth MacMillans Interpretation von 1962, Michael Keegan Dolans Version aus 2009 sowie Bauschs einzigartige Umsetzung aus dem Jahr 1975 gelten jedoch als meisterhafte Antworten auf Strawinskys monumentale Partitur.
Bauschs ursprünglich für das Tanztheater Wuppertal inszeniertes Werk hat unter anderem das Paris Opera und das English National Ballet begeistert. 2019, ein Jahrzehnt nach Bauschs Tod, übernahm die Pina Bausch Foundation das Ruder und lud das senegalesische École des Sables ein, das Werk in Zusammenarbeit mit Sadler's Wells neu aufzuführen.
Künstler aus 13 afrikanischen Ländern, angeleitet von Bausch-Veteranen, lieferten eine umjubelte Darbietung. Die aufsehenerregende Aufführung "Dancing at Dusk" wurde 2020 als Film veröffentlicht und bietet einen eindrucksvollen Blick auf das Spektakel, das am Strand von Toubab Dialao in den Bann zieht.
Rolf Borziks Kostüme und das eindrückliche Bühnenbild entfalten eine unzeitgemäße Atmosphäre, die die surreale Aura des Stückes verstärken. Besonders beeindruckend bleibt die choreografische Verbindung von Erdenschwere und luftiger Leichtigkeit, die durch zeitgenössische Tänzer intensiviert wird.
In der unabwendbaren Ritualhandlung verschmelzen Ensemble und Auserwählte (verkörp ert von Manuella Hermine Kouassi) zu einer mitreißenden Einheit, die von Strawinskys Musik getragen wird. In eindringlicher Manier vereinen die Tänzer von École des Sables, ausgewählt aus mehr als 200 Einreichungen, unterschiedliche kulturelle Hintergründe zu einem harmonischen Ganzen.
Die dynamische Gemeinschaft wirkt wie ein Schwarm aus Staren, der sich mühelos im Raum bewegt und das Publikum in das finale Tanz-Gemetzel mitreißt: Strawinskys Komposition wird lebendig.